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1993 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zum ersten Mal einen Staat wegen Verletzung der Religions­freiheit. Aus der Sicht von Juristen war kaum ein anderes Urteil derart wegweisend wie jenes im Fall Kokkinakis gegen Griechenland. Seit 30 Jahren trägt es maßgeblich zum Schutz der Religions­freiheit in den 46 Mitgliedstaaten des Europarats bei.

Unter dem griechischen Diktator Ioannis Metaxas wurde ein Gesetz eingeführt, welches „Proselyten­macherei“ verbot. Aufgrund dessen wurden in Griechenland von 1938 bis 1992 19 147 Zeugen Jehovas festgenommen. Der damals 30-jährige Minos Kokkinakis war der erste von ihnen. In all diesen Jahren hatten sie unter Unrecht, Schikane, körperlicher Gewalt und entsetzlichen Haftbedingungen zu leiden.

Minos ließ sich davon nicht einschüchtern und sprach weiter mit anderen über seinen Glauben. Deshalb wurde er mehr als 60 Mal festgenommen, stand 18 Mal in Griechenland vor Gericht, verbrachte über sechs Jahre in Gefängnissen sowie auf Gefängnisinseln und musste mehrere Geldstrafen bezahlen.

Ein halbes Jahrhundert lang führte Minos Kokkinakis gegen die griechischen Behörden einen Rechtsstreit, welcher schließlich mit einem historischen Urteil endete. 1993 entschied der EGMR zugunsten des inzwischen 84-jährigen Minos und stellte fest, dass Griechenland seine Religions­freiheit verletzt hatte.

Auf Anordnung des Gerichtshofs hatte die griechische Regierung Minos eine Entschädigung für das Leid, das ihm jahrelang widerfahren war, und für die ihm entstandenen Kosten zu zahlen. Minos verbrachte den Rest seines Lebens auf Kreta und starb 1999 im Alter von 90 Jahren.

Richter De Meyer, einer der neun beteiligten Richter, bestätigte, dass Minos kein Krimineller war, sondern „einzig und allein deshalb schuldig gesprochen [wurde], weil er solchen Eifer zeigte, und zwar ohne jegliche Unredlichkeit seinerseits“. Er erklärte weiter: „Proselyten­macherei, definiert als ‚eifriges Verbreiten seines Glaubens‘, darf als solches nicht unter Strafe stehen; es ist eine – in sich völlig legitime – Möglichkeit, seine ‚Religion auszuüben‘.“

Wie in einer viel beachteten Aussage des Kokkinakis-Urteils erklärt wird, ist mit religiöser Überzeugung auch das Zeugnisgeben in Wort und Tat verknüpft. In der Entscheidung wurde bestätigt, dass „die Freiheit, seine Religion zu bekunden, … grundsätzlich das Recht [beinhaltet], seinen Nächsten beispielsweise durch ‚Unterricht‘ zu überzeugen“.

Die Kokkinakis-Entscheidung schuf einen Präzedenzfall, der auch heute zunehmend an Bedeutung gewinnt, wenn einflussreiche Regierungen versuchen, das Recht auf freie Glaubensausübung zu verwehren. Philip Brumley, Justiziar von Jehovas Zeugen, erläutert: „Das Kokkinakis-Urteil bestätigte das Recht, mit anderen friedlich über den eigenen Glauben zu sprechen. Es ist die meistzitierte, maßgeblichste Entscheidung des EGMR in Bezug auf Religions­freiheit, auch außerhalb von Europa.“

Auf den Kokkinakis-Fall wird oft verwiesen, wenn jemand beim Europäischen Gerichtshof Rechtsmittel einlegt und auch an juristischen Fakultäten gehört er zum Lehrstoff. Die offizielle Website des Europarats verweist bis heute auf das Kokkinakis-Urteil bei den Ausführungen dazu, welche Rechte durch die Europäische Menschenrechts­konvention geschützt werden.

Kontakt:
Franz Michael Zagler,
Tel: 0676/637 84 96,
E-Mail: fm.zagler@outlook.com

Foto: © jw.org

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